Sokrates erörtert im platonischen Dialog „Phaidros“, welcher Gebrauch der Schrift vertretbar ist und welcher nicht. Dabei stellt er die Frage nach der Ziemlichkeit (euprepeia) oder der Unziemlichkeit (aprepeia) des Gebrauchs der Schrift.
Der antike Philosoph referiert: einfältig ist es zu meinen, man könne eine Kunst (techne) in der Schrift vermitteln, oder daß sich aus Schriften etwas Klares und Verläßliches gewinnen lasse. Geschriebene Darlegungen können nicht mehr leisten als den schon Wissenden daran zu erinnern, wovon das Geschriebene handelt.
Die Schrift bedürfe außerdem stets ihres Urhebers als Verteidiger, wenn sie mal zu unrecht geschmäht wird, da sie sich selber nicht zur Hilfe kommen könne.
Der geschriebene Logos ist nur ein Bruder des besseren und fähigeren Logos, der in die Seele der Lernenden geschrieben wird, der sich wehren kann und überdies auch weiß, zu wem er reden oder schweigen muss.
Damit bezieht sich Platon mit den Worten seines fiktiven Sokrates (dessen Grundlage der echte Philosoph ist) auf die Kunst des Dialogs und mit ihm verbundenen philosophischen Diskurses. Genuin philsoophische Erkenntnis kann nicht alleine durch Lektüre generiert werden. Ohne mündliche Belehrung schafft sie nur Scheinwissen (und arrogante Einbildung dazu).
Jetzt bin ich selber ein Mensch der Bücher, der sein Wissen vor allem aus schriftlichen Quellen bezieht und der wenig echten Dialog betreibt. Dennoch muß ich zugeben, daß auch ich von guten Unterhaltungen profitiere. So genieße ich Vorträge an der Universität sehr, insbesondere wenn sie Diskurscharakter entwickeln. So kann ich meine Überlegungen überprüfen. Einen geschriebenen Text kann ich weniger eindringlich analysieren und besprechen, als es mir im Dialog möglich wäre.
Es stellt sich mir dennoch die Frage, ob in unseren Zeiten der vielfach kodierten Information, Kommunikation wird vielfältig betrieben, ich höre gerne Podcasts oder schaue auf Youtube bereits aufgezeichnete Dialoge (z.B. Sternstunden der Philosophie, SFR), das gespeicherte Wissen mir nicht doch zum Vorteil gereicht, gegenüber eher flachen Dialogen, die mein Alltag mit sich führt. Sehr profitiere ich von der Plattform der wbg. Hier wird der Dialog zwar geschrieben, eine Unterhaltung bleibt er allzumal.
Im Sinne Platons teilt sich jegliche Erkenntnis durch den dialogischen Diskurs mittels der Dialektik mit. So bot ihm die Plattform der antiken athenischen Akademie eine Möglichkeit über seine geschriebenen Dialoge hinaus, seine Philosophie im mündlichen Gespräch zu betreiben. Sein Schüler Aristoteles schreibt, dass Platon seine wahren Erkenntnisse zurückhielt, und sie nicht aufschreiben ließ. Auch sind seine Überlegungen zur Prinzipienlehre nicht schriftlich überliefert. Aristoteles und andere Philosophen nennen aber insbesondere diese, den Kern der Platonischen Philosophie.
Fehlt einem die Anbindung an Netzwerke in denen viel miteinander diskutiert wird, über philosophische Themen bisweilen, so greift man zurück auf das, was einem zur Verfügung steht. In meinem Fall ist das der Weg in die Buchhandlung, wo ich das geschriebene Wort, die Literatur, vorfinde.
Man stelle sich nur im Kontrast zur Einsicht Platons die Welt ohne Belletristik vor. Wie trostlos und öde wäre sie.
Obschon in der Antike ausgezeichnet auswendig gelernt und hervorragend rezitiert wurde. Homer soll blind gewesen sein. Seine epische Dichtung ist dennoch beeindruckend.
Schließlich läßt uns Sokrates im „Phaidros“ wissen, dass uns der Dialog das Gedächtnis schult, uns voranbringt, eine höhere intellektuelle Leistung abzurufen.
Was mögen Sie mehr, das ruhige geschriebene Wort oder das Gespräch? Ziehen Sie überhaupt eines der beiden vor, oder greifen Sie gerne auf beide Formen des Wissentransfers zu?
"Thinking, Slow and Fast" von Daniel Kahneman habe ich nur teilweise gelesen, und einiges, was ich (meiner Meinung nach) darin verstanden habe, halte ich für falsch. Natürlich denken die Menschen nicht nur rational, sondern immer auch im "system 1" -- dass einem ein Wein besonders gut schmeckt oder jemand sympathisch ist, gilt jedenfalls nicht als "rationales" Urteil. Das ist nichts Neues.
Aber ich glaube, dass ich immer in beiden "systems" denke und keines je "abschalten" kann. Und dass man sinnvoll aus einem einzigen kuriosen Experiment mit ein paar Richtern und Würfeln schliessen könne, wie "wir" (die restlichen acht Milliarden) in einer speziellen Situation denken, scheint mir bestenfalls eine krasse Fehleinschätzung zu sein (oder sonst ein Missverständnis der naturwissenschaftlichen Methode).
Michael Deckers.
Michael Deckers Norbert Knoll Marcin Lupa
Ihre Beiträge lassen erkennen, wie stark Menschen von ihrem Denken Gebrauch machen und dies in einen Diskurs einbringen können. Für Sie geht es letzten Endes auch um Wissen(schaft) und Verständnis dessen, was uns geistig und praktisch angeht.
Die Gabe des wissenschaftlichen Denkens hat sich längst in mehrere Richtungen verzweigt und verselbständigt.
Stark abstrahiert sind das (in meinen Worten): der Wahrheitszweig, dem es vor allem um richtige und gültige Erkenntnis und (dialektisches) Denken geht; den Nützlichkeitszweig, der sich mit Technologie und Wirtschaft verbündet hat; der Wissbegierzweig, der auch letzte Rätsel und Geheimnisse und Lebensgrundlagen zu erforschen sucht; der Geltungszweig, der eine erhabene Stellung über den Häuptern der Menschheit verspricht; der Machtzweig, der sich der Sicherheit und der Lebenskontrolle verschrieben hat; und der philanthropische Zweig, der sich der Bildung und der Entwicklung des Menschseins und der Mitmenschlichkeit widmet.
Vielleicht hat bei Ihnen wie bei mir bei der Lektüre des Kahnemann-Werkes ein Widerstreben mitgespielt, solches ausgebreitetes Wissen auf hunderten Seiten Redundanzen vorgesetzt zu bekommen. Statt auf 30 bis 70 Seiten eine menschliche, verständliche und hinreichende Zusammenfassung für ... Laien wie uns, die gleichwohl denken und verstehen möchten.
Mir gefällt ausnehmend gut, wenn Diskurse wie dieser in der wbg-community w e i t e r führend gestaltet werden.
Lieber Herr Jürgen Germann & Herr Lupa, an eines glaube ich ganz fest:
Dass sich das wissenschaftliche Denken gar nicht so weit vom Alltagsdenken, ganz einfacher Menschen - wie wir es sind -unterscheidet. Natürlich werden in den Wissenschaften - und das ist insbesondere klar für Gegenstände der Naturwissenschaften - Messmethoden und formale Systeme (wie sie aus der Mathematik bekannt sind) in weitaus differenzierterer Weise angewandt, als wir es aus dem Alltag gewohnt sind. Da werden Gleichungssysteme und Differentialgleichungssysteme erstellt, mit einer Vielzahl von Parametern und Variablen, die im Alltag niemals Verwendung finden könnten, weil im Alltag weder Kapazitäten & Fertigkeiten noch Zeit verfügbar wären für entsprechende Lösungsansätze von Alltagsproblemen.
Aber im Grunde muss alles auf die gleiche Art funktionieren, die "gleiche Art von Aktivitäten" muss im Alltag und in den Wissenschaften stattfinden, um "Aktivitäten des Denkens", zur Schaffung und Überprüfung neuer oder Zurückweisung weit verbreiteter (und doch als überholt zu entlarvender) Erkenntnisse zu ermöglichen.
Einer meiner Lieblinge unter den Klassikern der Soziologie, Alfred Schütz, hat einmal einen Essay geschrieben in dem er die Verteilung von Wissen in der Gesellschaft auf drei Idealtypen (ganz nach dem Ansatz Max Webers) postuliert hat. Idealtypen des (a) auf ein Spezialgebiet konzentrierten Experten, (b) des Manns (politisch korrekt: Menschen) von der Straße, der lediglich über Wissen verfügt, das ihn unmittelbar in seinem Alltag berührt und (c) des gut informierten Bürgers, als verbindendem Zwischenglied, das leider vom Aussterben bedroht ist.
Ich sage leider, weil das Wissen der Experten (aller denkbaren biologischen Geschlechter) ein Elend ist und die Verfangenheit ins Wissen der Menschen von der Straße (an dem sich die Meinungsforschung und in weiterer Folge die Politik anhängen) nicht minder elend ist.
Wenn in mir ein Widerstreben gegen Kahnemann aufgebrochen ist, dann weil es nur zwischen zwei Formen des Denkens zu unterschieden versucht, die beide der reinen Rationalität huldigen. Wie oben erwähnt, halte ich den "homo ludens", der sich spontan äußert (ohne vorher Handlungspläne und Szenarien entwickelt zu haben) und einfach nur experimentiert (ohne irgendein Ziel dabei zu verfolgen) für einen mindestens ebenso wertvollen Bestandteil der aktiven Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und seiner sozialen Mitwelt. Dieser spielerisch-spontan-experimentierfreudige Teil des Menschseins scheint sich zwar im Übergang vom Kindsein zum Erwachsenwerden immer mehr zu verringern, aber ohne ihn könnte der Mensch nicht Mensch sein, wäre dann eher so etwas wie eine Gottheit oder eine Maschine, denen wir bereit sind eine "höhere" und erstrebenswerte Stufe von Rationalität zuzugestehen
Es freut mich außerordentlich, dass in dieser Runde noch Gedanken geäußert und ausgetauscht werden können, die den Charakter des spontanen Experimentierens aufweisen dürfen.
Michael Deckers, das gibt mir zu denken.
Ich gehe auch davon aus, dass wir in beiden Systemen denken. Das Intuitive wird jedoch nicht immer reflektiert und bleibt in zahlreichen Situationen, die wenig Zeit lassen, Reflex.
Jürgen Germann, lieber Herr Germann, den Nützlichkeitszweig beginne ich gerade erst zu entdecken, da mich Bildung und Dialektik anfänglich so sehr fesselten, dass ich das Praktische als Minderwertig betrachtete. Ein Fehler meines Denkens, zugegeben. Nichtsdestotrotz erscheinen mir auch heute die beiden erstgenannten als edel. Und Macht ist sehr mit Vorsicht zu genießen, da sie meines Erachtens verdirbt, wenn sie unreflektiert bleibt.
Norbert KNOLL
... und den ganzen Reichtum menschlichen Daseins, Tuns und Denkens nicht aus den Augen verlieren.
Und vielleicht mindert faire Wertschätzung der verschiedenen Typen von Denk-Richtungen und -Niveaus ja die unschöne Geringschätzung?