Lea Ypi, Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte
Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Faszinierend, mitreißend, nachdenklich stimmend. Lea Ypi, Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics wurde 1979 in Tirana, Albanien geboren. Das Buch ist die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend. Es ist die Geschichte über ein behütetes Aufwachsen im sozialistischen Albanien, über ein Kinderleben ohne jeden Zweifel und ohne ein Gefühl der Unfreiheit. Und es ist die Geschichte über ein Land im Umbruch, das seinen Weg in die Freiheit nicht findet und in der Katastrophe eines Bürgerkriegs landet.
Gleichzeitig ist es eine Hommage an die eigene Familie, die der Tochter schlimme Wahrheiten vorenthält und ihr damit eine unbeschwerte Kindheit ermöglicht. Die Familie, vor allem aber die Großmutter Nini, der das Buch gewidmet ist, sind der sichere Hafen. Das Fundament, trotz aller äußeren Erschütterungen, in ein einigermaßen normales Leben zu finden, auch wenn die erfahrenen Unsicherheiten, die Verluste und Ängste unwiederbringlich jene frühe, kindliche Unbeschwertheit auslöschen.
Leas Familienmitglieder haben die „falsche“ Biographie. Als Kind ahnt sie das nur, z.B. wenn weder Vater, Mutter noch Großmutter familiäre Heldengeschichten für den Schulunterricht parat haben oder sie ausweichend reagieren, als die Tochter angesichts Enver Hoxhas Tod 1985 unbedingt ein gerahmtes Foto des verehrten „Onkels“ haben möchte. Erst mit Ende des Sozialismus 1990 lernt sie ihre Familiengeschichte kennen und ahnt, was die neue Freiheit für ihre Eltern und ihre Großmutter bedeutet.
Hautnah erlebt Lea aber auch, dass die von ihren Eltern ersehnte Freiheit, nicht nur glänzt, sondern viele Schattenseiten hat. Dass man sich Freisein wirtschaftlich leisten muss und dass Freiheit nicht automatisch eine bessere Gesellschaft produziert.
Ihre sehr detaillierten Schilderungen der 90er Jahre in Albanien können stellvertretend für alle anderen postsozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas stehen - auch wenn es sicherlich einzelne nationale Unterschiede und Besonderheiten gibt. Sie macht klar, wo die Wurzeln für heutige Entwicklungen liegen, die vor allem wir West-Europäer lange Jahre vollkommen ausgeblendet haben. Und ihre Analysen können uns als Spiegel dienen, als Spiegel, unsere eigene Selbstgewissheit und vielleicht sogar Selbstzufriedenheit zu hinterfragen.
Mit Recht ist das Buch auf der Sachbuch Bestenliste im Monat Mai. Meine Empfehlung: Lesen!
https://www.wbg-wissenverbindet.de/shop/42408/frei
Ein Gespräch mit Lea Ypi im Schweizer Fernsehen, Sternstunde Philosophie
https://www.srf.ch/audio/sternstunde-philosophie/lea-ypi-das-geheimnis-der-freiheit?id=12166178
An dieser Stelle noch einmal ganz herzlichen Dank, lieber Herr Lupa, für diese Empfehlung.
Liebe Frau Hitschler, ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren Kommentar. Dann darf ich mich vielleicht irgendwann auf einen Austausch mit Ihnen freuen? Ich bin gespannt auf Ihr Urteil. Mich hat das Buch auch deshalb so begeistert, weil es trotz der oftmals traurigen Themen, nie negativ oder deprimierend war. Mein Bild Albaniens z.B. war bis zur Lektüre des Buches eher vorurteilsbeladen und ein Stückweit auch negativ geprägt. Durch Lea Ypis Beschreibungen haben sich so viele neue Facetten des Landes und seiner Geschichte aufgetan, dass ich diese am liebsten gleich weiter vertiefen möchte. Ein wirklich beeindruckendes Buch und eine sehr beeindruckende Autorin. Herzliche Grüße und eine gute Zeit für Sie!