Frische, warme Frühlingsluft weht durch das spaltbreit geöffnete Fenster in den Raum. Nackenhaarerzitternd schiebt sie sich vorbei, nicht stürmisch, nicht verkühlend, sondern sanft und stetig. Sie lädt ein. Sie bietet eine Probe ihrer Wohligkeit und Seelenruhe und fordert einen Schritt zu ihr. Einen Schritt über die Schwelle nach draußen zu ihr. Und jeder ist gewillt, diesen Schritt zu gehen, denn jeder ist vertraut mit dieser Ruhe, man kennt sie, weil sie alles ist, wonach wir uns sehnen. Selbst im tiefsten Winter, im heißesten Sommer ist es genau diese Frühlingsfrische, die in unserem Inneren verankert ist, verankert als vertrautester Zustand. Jeder liebt sie, wenn sie kommt, und jeder tritt an ihre Seite, wenn sie einlädt, die Schwelle nach draußen zu überschreiten. Jeder, nur ich nicht. Nicht jetzt.
Und du mir vis-à-vis, gethront auf Kissen und Matratzen, stößt deinen Atem heftig dieser Frühlingsluft entgegen. Mit Kraft, beinahe mit all der Brutalität, die dir geblieben ist, versuchst du gegen sie anzuatmen, sie aus dem Fensterspalt herauszudrücken. Dir bleibt die Kraft nicht lange, das ist offensichtlich …. für mich. Doch du hast nie aufgegeben. Die Standhaftigkeit steht dir auch jetzt noch fest im Gesichte. Wenn auch alles aus dieser Welt verschwunden ist, was dich ausmachte und kennzeichnete, deine Standhaftigkeit, die bleibt. Sie ist das letzte, was bleibt. Deine Haare, wie sie einst in leichten Wellen beim Erdbeerpflücken auf deine Schultern fielen. Deine rosigen, vollen Wangen, die sich so oft und so warm an meine geschmiegt haben. Deine Wimpern, die so voller Tränen waren, als wir in deinem Bett nebeneinander lagen, ich noch ein Kind, und du mir von alledem erzähltest, was so geschehen war. All das ist nun verschwunden. Das Lachen wie das Weinen, nur deine Standhaftigkeit, die bleibt. Sie bleibt, weil sie das ist, woraus all das Lachen und das Weinen entsprang, weil sie dich ausmacht. Du bist sie. Doch gewinnt der Frühling die Überhand, wird auch sie weichen müssen. Dann ist die Quelle dieser Stöße deines Atems versiegt und du wirst dich der Frühlingsluft hingeben müssen und an ihre Seite kommen, wie es für jeden einmal bestimmt ist. Und dann ist alles fort.
Alles fort. Ich schaue auf, lasse meinen Blick durch das Zimmer fahren, betrachte die beigebraune Tapete, die 90er-Jahre-Möblierung, den Fernseher, in dessen schwarzem Bildschirm wir uns widerspiegeln. Am Ende des Weges meiner Augen durch den Raum steht die Bilderwand deinem Bett entgegen. Ein etwas energischerer Windhauch drückt von draußen durch das Fenster. Ich beschaue dich in jungen Jahren, gerade einmal zwei Jahre in der neuen Heimat angekommen; ein wenig später mit ihm, der nie die Wunden des Krieges gänzlich hat heilen können. Schwer war es oft, doch du warst standhaft. Dann du, wie er mit den Wunden die Kleine das erste Mal im Arm hatte. Ganz hinten, kaum zu erkennen, eine bleiche, zerknickte Fotographie von dir, einem Mann und einem Hund vor einem Hof. Und im Zentrum, zwischen all den anderen, das von uns beiden, als du es mir erzähltest. Als du mir alles erzähltest. Wir lagen im Bett und du weintest. Ich habe nie jemanden so weinen gehört. So bitterlich flossen die Tränen über deine Wangen, doch du konntest es mir erzählen, wenn auch zittrig. Wie es dazu kam, weiß ich schon gar nicht mehr, aber du erzähltest mir vom Gesicht des Mannes auf dem Foto vor dem Hof. Es war damals so schmerzverzerrt, für dich eigentlich nur verschwommen doch die Schmerzen in seinem Gesicht waren dir noch deutlich vor Augen. Eigentlich hatte er damals keine Schmerzen, sondern eine Pistole am Kopf. Aber es tat ihm so weh, dass du es hast mit ansehen müssen. Sie hielten dich fest, erzähltest du, und als du es erzähltest, warst du wieder Kind, sie hielten dich und ließen dich mit ansehen, wie ihm eine Pistole an den Kopf gehalten wurde, weil seine Uhr ein paar Minuten falsch ging. Vielleicht hatten sie in Russland auch eine andere Zeit, warfst du ein, aber es tat nichts zur Sache. Und wäre sein Hemd falsch geknöpft oder ein Schnürsenkel kürzer als der andere, sie hätten ihm trotzdem diese Pistole an den Kopf gehalten. Was du erzähltest, war grausam, aber wie du es erzähltest, machte es unerträglich. Der Hund kläffte, du versuchtest dich zu befreien, doch sie waren zu stark und zu dritt, du wolltest zu ihm und hast geschrien vor Angst, aber sie ließen dich nicht. Zwei von ihnen nahmen deine älteste Schwester mit ins Haus, um Weißgottwas mit ihr zu tun. Der Hund kläffte und dieser Moment erschien dir endlos, als einer von ihnen plötzlich wutentbrannt seine Pistole aus der Halterung riss, etwas brüllte und dem Hund einen sauberen Kopfschuss verpasste. Endlos war dieser Moment und wie in Zeitlupe kam dir alles vor und diese Bilder sind noch immer in deinem Kopf und laufen wieder und wieder ab. An der Stelle bist du besonders in Tränen ausgebrochen. Er konnte doch nichts für all das, riefst du immer wieder, und voller Schmerzen vergrubst du dein Gesicht in deinem Taschentuch. Solche Schmerzen habe ich bis heute nicht wieder erlebt. Der Hund war es, was die Grausamkeit für dich komplett machte. Und ihn mit der Pistole am Kopf schlugen sie und schrien ihn an mit Worten, die du nicht kanntest. Du warst so jung, aber Kind warst du von da an nicht mehr. Sie haben sie dir genommen, die Kindesgüte, die Leichtigkeit und haben Misstrauen in dir gesät. Aber du warst standhaft. Ihn mit der Pistole am Kopf, erzähltest du, und es war kein Schmerz mehr in deiner Stimme zu hören nach dem Teil mit dem Hund, sondern es war nur noch Entrüstung über diese Grausamkeit und Erschöpfung vom erneuten Durchleben dieser Szene, ihn mit der Pistole am Kopf nahmen sie mit in den Lastwagen, mit dem sie kamen, und ließen dich laufen. Wie ein verwundetes Tier liefst du auf dem regennassen, matschigen Weg zum Dorf und von dort aus bist du weg, bevor sie wiederkamen. Sie haben meinen Hund erschossen, einfach erschossen, setztest du dann noch einmal an. Und ich neben dir spürte die immer noch klaffende Wunde. Sie wird nie heilen. Aber du bliebst standhaft. Ihn mit der Pistole am Kopf, deine Schwester und alle sonst hast du nie wieder gesehen. – Da fällt mir noch etwas ein: Auf dem anderen Foto, lange nach der Sache mit dem Hund, obwohl der Kopfschuss dir noch tief im Herzen steckte, ist er drauf, der später nie die Wunden des Krieges heilen konnte. Weder deine noch die eigenen. Du erzähltest, dass du selbst Jahre gebraucht hast, um das erste Mal einem Menschen wieder zu vertrauen. Und dieser Mensch er war. Er hatte so schöne Locken, sagtest du immer. Auf dem Foto steht ihr in leichter Sommerbekleidung, wie es damals so üblich war, vor dem Badesee, an den wir immer fuhren, wenn es heiß war. Du ein paar gepflückte Blumen in der Hand und deine Haare hochgesteckt. Er mit einem Sonnenhut daneben und einem Flachmann, der ein Stück aus seiner Hosentasche lugte. Das hat der Krieg mit ihm gemacht, betontest du immer und versuchtest dir auch damals nicht anmerken zu lassen, wie schwer es manchmal war. Aber ich habe es schon immer gesehen. Er hat dir nie etwas angetan, nicht physisch. Aber die Wunden verheilen nicht, wenn man sie mit Weinbrand begießt. Doch du warst so standhaft. Es war nicht alles schlecht, sagtest du immer, als er schon lange über die Schwelle war und fern von seinem Krieg. Vieles war auch sehr schön. Und das Schöne überwiegt, sagtest du immer. Und wenn du das sagtest, hattest du immer dieses Strahlen auf den Lippen und ich glaubte es dir immer. Egal, wie sehr es mir wehtat, ihn so zu sehen, und dich, wie du jeden Rausch mitlittest. Du hast das Schöne gesehen. – Einmal, da kam die Kleine dir und ihm das erste Mal unter die Augen. Die Sterne standen schlecht, denn sie war ohne Vater und ohne heiligen Bund zu uns gestoßen. Oh, was hat er geschimpft und geflucht und was habe ich geweint und geweint. Auf keinen Fall wollte er sie anerkennen, auf keinen Fall, beim Teufel nicht. Verweigert hatte er sich, die Kleine auch nur zu sehen. So ein Bastard, rief er immer wieder, so ein Bastard kommt mir nicht ins Haus. Fürchterlich war die Zeit für mich. Fürchterlich, ihm in die Augen zu sehen. Und dann kamst du. Was genau du zu ihm sagtest, weiß ich bis heute nicht, aber du musst mit all deiner Standhaftigkeit gesprochen haben. Du standst für die Einigkeit ein mit alle deiner Standhaftigkeit und Entschlossenheit. Und wenn du deine Stärke entfaltetest, wer sollte sich dir entgegenstellen. Egal, was du damals zu ihm sagtest, ich wie es nicht. Ich weiß, dass er sich dir nicht widersetzen konnte, weil er wusste, dass du recht hast. Am Ende war aber alles egal, denn er hat sie anschließend geliebt, die Kleine. Abgöttisch und ehrlich hat er sie geliebt. Nichts hat er auf sie kommen lassen, sein Augapfel hast du die Kleine später immer bezeichnet, als sie nicht mehr so klein war. Aber das warst du, die ihn zur Vernunft gebracht hatte, du mit deiner Standhaftigkeit, deiner Stärke und deiner Entschlossenheit, und du mit deinen Wunden. Das warst du. Das alles warst du.
Ich löse mich aus meinen Gedanken an dich und mit den Blicken von der Fotowand. Eine warme, gütige Frühlingsluft durchfließt allenthalben den Raum. Ich atme tief – oder du? Du bist nicht fort. Du wirst nie fort sein. Dein Haar, deine Wangen, deine Wimpern werden fort sein; diese Fotos an der Wand werden vergilben und verschwinden, aber du wirst nie fort sein. Die Zeitpunkte deiner Geschichte werden nicht verschwinden, weil sie auch Zeitpunkte meiner Geschichte sind. Du erzähltest sie mir und ich erzähle sie neu und wer auch immer sich in meine Geschichte einzuweben vermag, wird sie weitererzählen. Voller Dankbarkeit blicke ich dich an. Und gehe raus in den Frühling.
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Ein paar Tage später, an einem Freitagvormittag Ende Februar, durchstößt ein weißer Krokus aus einer alten Zwiebel im Boden einen Spalt im Asphalt mitten auf der Waldstraße in Lübeck, Israelsdorf.
Vielen Dank für die Rückmeldung!
Da kann ich nur zustimmen. Und viel wichtiger ist es dann, solange es einem möglich ist, an der Familie und dem, was man hat, festzuhalten und dafür einzustehen. Denn man weiß nie, was kommt. Sei es Krieg oder Schicksal oder etwas anderes. Auch dafür steht dieser Text.
Jonas Gohlke, das hätte ich beinahe vergessen, dass das Leben noch sehr viele andere Schicksalsschläge inpeto hat.