Heil euch, brave Karrenschieber…[1]
Mühelos erkennt man den spöttischen Unterton im Gedicht Friedrich Nietzsches, welcher verkrustete und mithin reglose Denkweisen der „braven Karrenschieber“ – mutmaßlich ausgestattet mit Scheuklappen für Ansichten jenseits der gewohnten Überzeugungen - missbilligte.
Nietzsche stritt dafür, „von den kleinlichen Vorlieben für das Gewohnte abzulassen“[2], um aufzuwachen aus dem Tagtraum des lebendigen Tods - denn so verstand er das Dasein des selbstgefälligen Menschengeschlechts.
Der Mensch verrennt sich blindwütig in die eigene Ohnmacht; er steht orientierungslos im Nebel seiner Selbsttäuschung und wird als „funktionierender“ Erdenbürger in den ideellen Erziehungslagern reproduziert[3] - wieder und wieder: „(…) man denkt, schreibt, druckt, spricht, lehrt (…), - so weit ist ungefähr Alles erlaubt, nur im Handeln, im sogenannten Leben ist es anders: da ist immer nur Eines erlaubt und alles Andere einfach unmöglich: so will’s die historische Bildung. Sind das noch Menschen, fragt man sich dann, oder vielleicht nur Denk-, Schreib- und Redemaschinen?“[4]
Notwendigerweise greift Nietzsche hier zum philosophischen Hammer und fordert den Ausbruch aus dem Zuchthaus scheinbar unumstößlicher Prinzipien - „die radikale Ablehnung von Wert, Sinn und Wünschbarkeit“[5] -; so ist die Hörigkeit der Werte mitnichten ein natürlicher, als vielmehr ein kulturell verklärter Vorgang.
Denn die Konsequenzen dieser anerzogenen Hörigkeit sind Prototypen von Auffassungen und Standpunkten, die sich lediglich dadurch unterscheiden lassen, dass sie einem anderen geschichtlichen und kulturellen Umstand entspringen, aber keineswegs einem freien (schöpferischen) Geist. So gilt es Nietzsche, ganz in der Tradition des aufklärerischen Leitspruchs „Sapere Aude“[6], das Joch des stumpfsinnigen Daseins korrumpierender Berieselung abzuwerfen und selbst das Steuer in eine bessere Zukunft zu lenken - frei von Last und offen für Wandel.
Doch obwohl keine Gesinnung den Einzelnen so einschnüren kann, dass er sich nicht zumindest teilweise davon befreit, ist (der lange Prozess der) Veränderung immer auch ein schmerzlicher Bruch mit dem Bekannten.
Diese Anstrengungen gilt es trotz aller Widrigkeiten - die ein Zitat Max Plancks auf den Punkt bringt: „Eine neue (….) Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben (…)“[7] - anzugehen.
Diesbezüglich sollte das mündige Individuum stets kritisch zur Welt stehen, die bisweilen fehlende Distanz zu althergebrachten Konventionen rehabilitieren und beginnen wieder zu hinterfragen und zu staunen: „(…) gerade in der aktuellen Situation ist es vielleicht viel wichtiger die richtigen Fragen zu stellen als bloß Antworten zu entfachen“[8].
Auf die Gefährlichkeit einer solchen sich verselbstständigten Antwort wies seinerzeit bereits der britische Ökonom Ernst Friedrich Schumacher in seinem Werk „Die Rückkehr zum menschlichen Maß“[9] hin, bei der die anfängliche Fragestellung in ihrem Kern und ihrer Sinnhaftigkeit längst nicht mehr einer kritischen Betrachtung unterzogen wurde. Als fassbares Beispiel nennt er unser unbändiges Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum[10], welches bisweilen schon fast obskure Züge annimmt: Wehe dem, der die unfehlbare Logik des Kapitalismus kritisiert.
Schlussendlich sollte man es vorziehen, dass die Mauern des Dogmatismus - zumindest solche, die sich zum inhaltsleeren Selbstzweck geworden sind - durch eine zeitweilige Distanz zur herrschenden Ideologie abgeklopft werden und wenn nötig eingerissen, um denkbare Irrtümer zu überwinden und den Blick freizumachen für alle Perspektiven unserer wechselhaften Welt. Gleichwohl ist nach erfolgtem Zweifel eine Rückkehr auf bereits gegangene Pfade immer möglich, insofern auch der prüfende Blick dahin zurückführt.
Anmerkungen
[1] „…, Stets "je länger, desto lieber", Steifer stets an Kopf und Knie, Unbegeistert, ungespässig, Unverwüstlich-mittelmässig, Sans genie et sans esprit!" (Friedrich Nietzsche: Unter Freunden. Ein Nachspiel, 1882).
[2] Volker Gerhardt in der Fernsehsendung „Sternstunde Philosophie“ vom 12.05.2013.
[3] „(...) so denke ich an das, was sich heute als Biophysik entwickelt, dass wir in absehbarer Zeit im Stande sind, den Menschen so zu machen, d.h. rein in seinem organischen Wesen so zu konstruieren, wie man ihn braucht: Geschickte und Ungeschickte, Gescheite und - Dumme. So weit wird es kommen!“ (Richard Wisser: „Heidegger im Gespräch“, 1973).
[4] Friedrich Nietzsche: „Unzeitgemäße Betrachtungen“, 1873-1876.
[5] Driedrich Nietzsche: „Nachgelassene Fragmente“, 1885-1887.
[6] Zu Deutsch: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Aus dem Immanuel Kants Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784.
[7] Aus dem Buch „Wissenschaftliche Selbstbiographie“ (1948), wobei Planck von der „wissenschaftlichen Wahrheit“ sprach.
[8] Slavoj Žižek in der Fernsehsendung „Sternstunde Philosophie“ vom 19.06.2016.
[9] Originaltitel „Small is Beautiful: (A Study of) Economics as if People Mattered“, 1973.
[10] Denn „wer glaubt, dass in einer endlichen Welt unendliches Wachstum möglich sei“, so Kenneth Boulding, „kann nur verrückt sein - oder Ökonom“. Zitiert im Buch „Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn“ des französischen Philosophen Serge Latouche, 2007.
Sehr geehrter Herr Knoll,
ich antworte mal ein wenig vorlaut, indem ich behaupte, dass der Karren das ist, was man daraus macht. In ihrem Falle würde ich von einer guten Ausgangslage sprechen, denn das hölzerne Transportmittel scheint, bis auf die Tatsache, dass es seinem Zwecke nach nicht genutzt wird, aber ansonsten in einem ganz passablen Zustand zu sein. Und doch: Farbe hilft sicher.
Nun, wie geht es meinem Karren? Es stellt sich sehr schwierig dar, die Richtung des Karrens im Wirrwarr angemessen und mit kühlem Kopf zu wählen. Ich bin bemüht und suche Halt im von ihnen beschriebenen „lauten, nach Aufmerksamkeit heischenden Durcheinanderschreien“. Allein ist gestaltet sich schwierig.
Für Sie und ihre Mitbürger bietet sich eine gemeinsame Nutzung des Karrens als Ort des Austausches oder gar - nach erfolgter vereinter Reparatur - als ebenjenes Transportmittel, das es nun einmal ist, für eine gemeinschaftliche Reise in die kommende Zeit an. Dies wünsche ich Ihnen. Denn ist es nicht das, was uns aktuell zu fehlen scheint?
Vielen Dank für das tolle Zitat Soares.
Ich verbleibe mit freundlichem Gruß