Erich Kästner, Das blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941-1945
Erich Kästner musste sich - insbesondere nach 1945 - immer wieder dafür rechtfertigen, dass er mit Hitlers Machtübernahme nicht wie viele andere Schriftstellerkollegen und- kolleginnen emigrierte, sondern sich für das Bleiben in Deutschland entschieden hatte. Und das, obwohl am 10. Mai 1933 auch sein Roman „Fabian“ und seine „Gedichtbände“ als Ausbund von „Dekadenz und moralischen Verfall“ öffentlich verbrannt wurden und er sicher auch persönlich gefährdet war.
Während Kästner am Anfang noch davon ausging, dass der „NS-Spuk“ schnell vorüber sei und man das Ganze aussitzen könne, sah er sich mit zunehmender Fortdauer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mehr und mehr als Chronist des anderen Deutschlands, der - in bewußter Abgrenzung zur NS-Propaganda - über die Geschehnisse aus der Innenperspektive besser berichten und urteilen könne als all die, die Teil des Systems waren oder das System nur von außen betrachten konnten. Unter dieser Maßgabe, aber auch weil er den Plan verfolgte, irgendwann einen großen Roman über die NS- und Kriegsjahre zu schreiben (was nie passierte), begann er 1941 mit seinem geheimen Kriegstagebuch.
Das Tagebuch, das Kästner im übrigen nicht kontinuierlich über die ganzen Jahre geführt hat - der Hauptteil umfasst die Jahre 1941, 1943 und 1945 - lässt sich in drei wesentliche Themenkomplexe aufteilen.
Zum einen schildert Kästner den Kriegsalltag in Deutschland und Berlin, der zunehmend von den Bombardements alliierter Flugzeugstaffeln geprägt ist. Kästner dokumentiert Angriffe, Zerstörungen und Tote , berichtet über das Leben mit Versorgungsengpässen und den Folgen des Ausgebombtwerdens, beschreibt den „Kampf“ mit dem Reichskriegsschädenamt um Entschädigung für seinen zerstörten Hausrat und lässt die Leser zumindest ansatzweise erahnen , wie man trotz alledem noch einen wie auch immer gearteten normalen Alltag leben konnte.
Die zweite wesentliche Komponente des Tagebuchs spiegelt sich in Kästners Bestreben, mit seinen Aufzeichnungen den Kriegsverlauf möglichst detailliert darzustellen. Und besonders hier zeigt sich die Problematik der nationalsozialistischen Abschottungspolitik für die in Deutschland Verbliebenen: da Kästner so gut wie keine „neutralen“ Informationen erhält, muß er häufig mutmaßen und liegt so mit seinen Einschätzungen auch öfter falsch. Dennoch vermitteln seine Aufzeichnungen einen guten Eindruck, wie die anfängliche positive Kriegsstimmung, die auch bei Kästner unterschwellig heraus lesbar ist, spätestens ab 1943 angesichts sich häufender Niederlagen der deutschen Wehrmacht und zunehmenden Bombenangriffe der Alliierten in Ernüchterung umschlägt.
Der dritte Themenkomplex beschäftigt sich mit dem Erleben des Kriegsendes, der notwendigen wirtschaftlichen, aber auch geistigen Neuausrichtung unter den Besatzungsmächten sowie mit der Aufarbeitung des Geschehenen, wobei letzteres nur am Rande eine Rolle spielt. Das Jahr 1945 beginnt mit Kästners fast schon filmreifer Flucht aus Berlin ins österreichische Zillertal, er beschreibt die ersten Versuche, sich mit den amerikanischen Besatzern zu arrangieren und im Sinne einer kulturellen Vielfalt wieder künstlerisch und journalistisch tätig zu werden und endet mit der Schilderung des Zusammentreffens mit einem Auschwitzüberlebenden.
Mit all dem heutigen Wissen über den Nationalsozialismus im Hintergrund ist man beim ersten Lesen des Tagebuchs manchmal sehr irritiert und versucht, vorschnell zu urteilen. Zu sehr vermisst man klare Stellungnahmen gegen das Regime - auch wenn es Seitenhiebe auf NS-Funktionäre gibt oder Kästner es sich zur Aufgabe macht, die sogenannten „Flüsterwitze“ zu dokumentieren. Das Erleben der Ausgrenzung, Verhaftung und Deportation der deutschen Juden wird so nur in Nebensätzen und dann vollkommen nüchtern, manchmal fast schon zynisch abgehandelt: „Ein jüdisches Ehepaar, das in meinem Haus wohnt, hat mich gefragt, ob ich Möbel, Bilder, Bücher, Porzellan usw. kaufen will. Sie hätten sehr schöne ausgesuchte Dinge. Aber das Geld werden sie ja wohl auch nicht mitnehmen dürfen.“ (S. 97, Tagebucheintrag „Ende Oktober 1941“) Eine Erschütterung spürt man erst am Ende des Tagebuchs als Kästner das Gespräch mit dem Auschwitzüberlebenden fast wörtlich wiedergibt, aber auch hier lässt er das Ganze unkommentiert, bezieht Stellung nur dahingehend, dass das Tagebuch mit diesem Bericht endet - vielleicht weil man angesichts soviel Grauens nur noch schweigen kann.
Auch Berichte über Widerstandsaktionen fehlen oder werden nur unkommentiert erwähnt. So gibt es im Jahr des Stauffenberg Attentats 1944 gar keine Aufzeichnungen und die Hinrichtung der Mitglieder der Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“ 1943 erwähnt Kästner lediglich mit dem Satz: „Über München hörte ich vor Tagen merkwürdige Dinge.(….) Flugzettel seien verteilt und vier Studenten hingerichtet worden.“ (S. 106, Tagebucheintrag 1.März)
Selbst persönlich sicherlich erschütternde Ereignisse wie z.B. der Selbstmord des wegen Wehrkraftzersetzung inhaftierten Freundes Erich Ohser finden keine Erwähnung in seinen Aufzeichnungen.
Und dennoch: Es lohnt sich, diesen Augenzeugenbericht zu lesen. Weil er eine Momentaufnahme ist, die aus dem Blickwinkel eines Erlebenden geschrieben wurde, der kein Mittäter, sondern vielleicht manches Mal nur ein Mitlaufender war, der sich nicht ausschließlich in die innere Emigration zurückzog, sondern als Drehbuchautor der Ufa Teil des Systems wurde (wenn auch nicht offiziell, sondern unter Pseudonym). Und weil das Tagebuch letztlich ein Zeitdokument dafür ist, dass nur die Wenigsten tatsächlich zu „Helden“ taugen. Kästner hat nach 1945 vieles getan, um den Autorinnen und Autoren der Emigration in Deutschland wieder eine Stimme zu verleihen. Damit hat er zumindest auf künstlerischer Ebene irgendwie auch eine Art moralische Wiedergutmachung versucht.
Berücksichtigen sollte man darüberhinaus, dass Kästner selbst nie geplant hatte, das Tagebuch vollständig zu veröffentlichen. 1961 gab er lediglich einen kommentierten Ausschnitt unter dem Titel „Notabene 45“ heraus. Und darin wird er vermutlich nachfolgende Tagebucheintragung vom 08. Mai 1945, die aus meiner Sicht ein wesentliches Leitmotiv der Aufzeichnungen spiegelt, nicht unkommentiert gelassen haben: „Da haben nun die drei größten Mächte der Erde fast sechs Jahre gebraucht, um die Nazis zu besiegen., und nun werfen sie der deutschen Bevölkerung, die antinazistisch war, vor, sie habe die Nazis geduldet! Deutschland ist das am längsten von den Nazis besetzte und unterdrückte Land gewesen, - nur so kann man die Situation einigermaßen richtig sehen.“ (S.205, Tagebucheintrag vom 8.5.45)
Hallo Herr Lupa,
herzlichen Dank für Ihre Ausführungen! Es freut mich sehr zu hören, dass Erich Kästner auch heute noch in den Schulen ein Thema ist. Ich bin mit seinen Kinderbüchern groß geworden und sie haben mich sehr geprägt, vor allem „Das fliegende Klassenzimmer“..Und ja, Sie haben Recht, Kästner war kein Opportunist. Es ging ihm vermutlich wie vielen anderen klugen Köpfen, die nicht mit dem NS-System sympathisierten: man musste Kompromisse machen, um das Ganze irgendwie zu überstehen und letztlich auch um überleben zu können. Viele seiner Kollegen und Kolleginnen, die geflüchtet sind, taten das ab 1933 oftmals aus ernsthafter Sorge um ihr Leben wie Heinrich Mann, Alfred Kerr oder Gabriele Tergit. Andere die geblieben sind, bezahlten es mit ihrem Leben - so Carl von Ossietzky oder Erich Mühsam. Erich Kästner hatte „Glück“: er wurde „nur“ zweimal von der Gestapo festgenommen, wurde nicht in ein KZ verschleppt, sondern erhielt „lediglich“ Schreibverbot, war damit aber seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt. Dass sich für ihn, vor allem durch seine Zusammenarbeit mit der Ufa manches zum Besseren wendete und diese Zusammenarbeit ihm 1945 vielleicht sogar das Leben gerettet hat, war nicht opportunistisch, sondern überlebensnotwendig.